J. Kuropka: Regionale Geschichtskultur

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Titel
Regionale Geschichtskultur. Phänomene – Projekte – Probleme aus Niedersachsen, Westfalen, Tschechien, Lettland, Ungarn, Rumänien und Polen


Herausgeber
Kuropka, Joachim
Erschienen
Berlin 2010: LIT Verlag
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nadine Ritzer, Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Universität Fribourg PHZ Luzern

Kultur (z. B. Bilder, Strassennamen und Denkmäler) und deren Vermittlungsinstanzen (wie Medien, Museen, Theater, Schulen etc.).

Unter dem Überbegriff der «Phänomene» widmet sich Joachim Kuropka in einem Beitrag der «Niedersachsen-Konstruktion». Er fragt nach der Nutzbarmachung von historischen Traditionen und den daraus entstehenden Kontroversen. Klemens August Recker zeigt in einer aufschlussreichen Studie, wie Bilder (Axel Gundrums «Hexenwahn» und «Verspottung») auch problematische geschichtskulturelle Vorstellungen tradieren können – beispielsweise, wenn ihre Dekonstruktion durch die Betrachtenden von der Geschichtswissenschaft relativierte oder gar widerlegte «Fehlschlüsse» nahelegt – beim «Hexenwahn» etwa die Verwicklung der Kirche in die Judenverfolgung der NS-Zeit in Osnabrück. Durch solche Beispiele wird die verantwortungsvolle Rolle der Kulturpolitik bei der Inszenierung und Tradierung von (Geschichts-)Kultur evident. Ein weiteres «Phänomen» präsentiert Marc Röbel mit seinen philosophisch-theologischen Überlegungen zum Einfluss der regionalen Geschichtskultur auf die religiöse Identität, während Hermann von Laer aufzeigt, wie Unternehmenskultur und Arbeitsethik mit den kulturellen Traditionen einer Region «verwachsen» sein können. Laers Artikel erhellt auch, wie die Pflege des kulturellen Erbes zu einem ökonomischen Faktor werden kann.

Ein weiterer Beitrag von Joachim Kuropka widmet sich den Amtshauptmännern und Landräten im Oldenburger Münsterland von 1933–1945 und ihrer Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus’. Kuropka zeigt anhand der Persönlichkeiten, denen er mittels verschiedener Protokolle (u. a. der Entnazifizierungsverfahren) und anderer offizieller und inoffizieller Quellen nachspürt, nicht nur exemplarisch mögliche Verhaltensweisen politischer Amtsträger auf, er macht auch den theoretisch nutzbaren Spielraum innerhalb des NS-Systems sichtbar. Tomasz Falęcki analysiert anhand von Denkmälern und Strassennamen der Stadt Kattowitz/ Katowice, wie die Geschichtskultur im 19. und 20. Jh. von der Politik vereinnahmt werden konnte. Polnische, deutsche, später «sowjetisch-sozialistische» Heroen, Kampfplätze aber auch Dichter, Denker und «Arbeiter» wechselten auf Schildern und Denkmälern den Platz. Nicht einmal vor Grabinschriften machten die jeweiligen Machthaber
und ihre Sprachpolitik Halt, was clevere Bürgerinnen und Bürger zum Trickgriff veranlasste, diese in Latein zu verfassen. Nach dem Ende des Kommunismus’ kehrten teilweise die alten Namen zurück – neue, zum Gedenken an die antikommunistischen Bewegungen, kamen hinzu.

Das Buch präsentiert weiter drei konkrete Projekte zur Förderung der Erinnerungs- und Geschichtskultur. Hermann Queckenstedt schildert, wie rund um die Osnabrücker Kathedrale Erinnerungsarbeit geleistet wurde und wird. Manfred Balzer beschreibt verschiedene Aktivitäten zur Inszenierung des «Westfälischen Jahrzehnts», während Pascal Trees anhand des lokalen Projekts des «Hauses der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit» in Gliwice/Gleiwitz die grenzüberschreitende Erinnerungsarbeit sichtbar macht. Das hochgesteckte Ziel, in verschiedenen Veranstaltungen und Vorträgen «dunkle Flecken» in der Geschichte zu erhellen und Geschichte zu «entlügen», gilt nicht nur für die deutsche, sondern auch für die polnische Geschichte.

Der grösste Teil der skizzierten «Probleme» im Umgang mit der Geschichtskultur widmet sich den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nach dem Umbruch von 1989 in Mittel- und Osteuropa. Der Übergang zur Demokratie machte einen neu definierten Umgang mit dem historischen Erbe möglich und führte zu einer differenzierteren Wahrnehmung von ethnischen und kulturellen Unterschieden – verstanden als wertvolle Bereicherung des «Nationalen» – die einst unter dem Banner des «internationalen Sozialismus» eingeebnet worden waren. Zdeněk Jirásek zeigt am Umgang mit Denkmälern und Museen auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik auf, wie der kommunistische Machtapparat durch ein neues Museumsgesetz, das die Institutionen dem Staat unterstellte, die Darstellung der Vergangenheit beeinflusste – die «Bedrängung der Arbeiterschaft» wurde zum zentralen Ausstellungsgegenstand. Nach dem Umbruch 1989/90 erfuhr die «Erinnerung» eine Pluralisierung, die als Ausstellungsgegenstand auch Tabuthemen zuliess. Um Pluralisierung anderer Art geht es im Artikel von Henrihs Soms, welcher anhand «Lettgallens» (Letgale) die Begründung einer Regionalkultur in Lettland durch Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe (wie etwa die latgalische Sprache oder die katholische Religion) nachzeichnet.

Nicht reibungslos gestaltet sich die Integration von Minderheitenkulturen in das nationale, geschichtskulturelle Erbe, wie dies Lászlo Pethö für die Ungarndeutschen und Johann Böhm für Siebenbürgen aufzeigen. Die in Rumänien verbleibenden Siebenbürger Sachsen, Banater- und Donau-Schwaben und die anderen 15 Minderheiten konnten nach dem Sturz Ceaucescus ihre Traditionen dank verschiedener Organisationen nicht nur (wieder) ausüben, sondern staatlich gefördert pflegen, mit dem propagierten Ziel, die Minderheitenkulturen regional zu verankern und dadurch die nationale rumänische Kultur zu bereichern. Kaum hilfreich für den angestrebten reflektierten Umgang mit der kulturellen Vielfalt in Siebenbürgen dürften sowohl die Forderung des Ungarnverbandes nach einer autonomen Region als auch einseitige Darstellungen von sächsischen und schwäbischen Historikern sein, wie Böhm sie teilweise noch immer findet. Die politischen Veränderungen in Polen haben zu verschiedenen Zonen mit sich überlagernden Identitäten geführt. Hieronim Szczegóła und Bernadetta Nitschke schildern, wie mit dem deutsch- polnischen Erbe – mit genügend zeitlichem Abstand – konstruktiv umgegangen werden kann und wie sich regionale, nationale und «europäische» Identitäten gegenseitig bereichern können. In den ehemaligen deutschen «Ostgebieten» blieb das «deutsche » Erbe ein prägender Faktor, was auch Czesław Osękowski in seinem Artikel analysiert. Insgesamt macht der Sammelband anhand unterschiedlich weit reichender «Geschichtskulturen » sichtbar, wie mit der «bunten Welt des Historischen» auf regionaler und nationaler Ebene gesellschaftspolitisch umgegangen wird. Die Artikel machen Chancen für Versöhnung und Möglichkeiten für ein besseres Verständnis des jeweils andern sichtbar. Sie weisen aber auch auf Gefahren und Misstöne hin, die durch eine Vereinnahmung und Instrumentalisierung der «eigenen» Geschichtskultur entstehen können.

Zitierweise:
Nadine Ritzer: Rezension zu: Joachim Kuropka (Hg.), Regionale Geschichtskultur. Phänomene – Projekte – Probleme aus Niedersachsen, Westfalen, Tschechien, Lettland, Ungarn, Rumänien und Polen, Berlin, LIT, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 777-779.